Diesen Monat hat die Biden-Regierung den britischen Behörden diplomatische Zusicherungen gegeben, dass sie Julian Assange nicht im amerikanischen Gefängnis ADX Florenz inhaftieren würde und ihn nicht dem harten Regime der «Special Administrative Measures» (SAMs) unterwerfen werden, wenn Grossbritannien seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten zulasse. Stefania Maurizi von «Il Fatto Quotidiano» bat die Amnesty-Expertin für nationale Sicherheit Julia Hall um eine Analyse dieser Zusicherungen und um einen Kommentar zum Pegasus-Skandal, zu dessen Aufdeckung Amnesty International massgeblich beigetragen hat.
Wir hatten anfangs Hoffnung, als die Biden-Regierung im Januar ihr Amt antrat. Wir dachten wirklich, dass es möglicherweise eine Überprüfung des Falls geben könnte. Biden war Vizepräsident in der Obama-Regierung, und die Obama-Regierung entschied sich eindeutig dafür, Assange nicht zu verfolgen, und so gab es anfangs eine gewisse Hoffnung. Dann kam die Berufung. Das war wirklich sehr enttäuschend. Aus Gründen, die die Regierung bisher nicht dargelegt hat, hat sie sich entschieden, den Fall weiterzuverfolgen. Zum jetzigen Zeitpunkt denke ich, dass die Berufung im Vereinigten Königreich durchgehen wird. Das Beunruhigende daran ist nicht nur, dass die USA überhaupt Berufung einlegen, sondern auch, wie lange es dauern wird und wie sehr dies Assange aufgrund seiner Haftbedingungen im Vereinigten Königreich weiter schadet. Insbesondere jetzt mit COVID-19. Dies ist Teil der Strategie, ihn so lange wie möglich in Haft zu halten. Es ist eine Art Tod durch tausend Schnitte.
Die USA haben es uns sehr leicht gemacht, die Auslieferung abzulehnen. Denn sie haben mit der einen Hand gegeben und mit der anderen Hand genommen. Sie sagen: Wir garantieren, dass er nicht in einem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten wird, dass er nicht unter Sondermassnahmen gestellt wird und dass er medizinische Versorgung erhält. Aber wenn er etwas tut, was uns nicht gefällt, behalten wir uns das Recht vor, ihm keine Garantien zu geben, wir behalten uns das Recht vor, ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis zu stecken, wir behalten uns das Recht vor, Sondermassnahmen anzuwenden. Das sind überhaupt keine Zusicherungen.
Es ist nicht schwer, sich diese Zusicherungen anzuschauen und zu sagen: Sie sind von Natur aus unzuverlässig, sie versprechen, etwas zu tun, und behalten sich dann das Recht vor, das Versprechen zu brechen. Die Richterin Vanessa Baraitser, die die Auslieferung im vergangenen Januar ablehnte, sagte: «Gemäss Abschnitt 91 des Auslieferungsvertrags wäre es unzumutbar, Julian Assange in die USA zu schicken, wo er Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte, die ihn zu Selbstverletzungen oder Selbstmord bringen könnten.»
Wenn man sich also die Zusicherungen ansieht und feststellt, dass sich die US-Regierung das Recht vorbehält, ihn aufgrund seines Verhaltens in eine Hochsicherheitseinrichtung zu stecken oder ihm besondere Massnahmen aufzuerlegen: Die USA sind kein Staat, in dem das Folterverbot absolut ist. Die verlängerte Einzelhaft in Hochsicherheitsgefängnissen oder die Unterwerfung unter SAMs («Special Administrative Measures») stellen einen Verstoss gegen das Folterverbot dar. Das Verbot der Folter kann nicht von seinem Handeln abhängig gemacht werden. Es ist ein absolutes Verbot. Egal, was man tut, nach internationalem Recht darf man nicht gefoltert werden. Es ist wirklich wichtig, daran zu denken, dass der Standard in Europa lautet: Besteht für eine Person die Gefahr, gefoltert oder misshandelt zu werden? Der Massstab ist nicht, dass sie auf jeden Fall gefoltert oder misshandelt werden wird, sondern man muss fragen: Besteht die Gefahr, dass diese Person gefoltert wird? Die USA haben dieses Risiko in ihre Zusicherungen eingebaut.
Ich beschäftige mich seit fast zwei Jahrzehnten mit diesem Thema im Zusammenhang mit dem US-Rendition-Programm (Überstellungen von unter Terrorismusverdacht festgenommener Personen, Anm.).
Es ist ein viel grösseres Problem, das weit über Assange hinausgeht. Der Fall Assange hätte Folgen für so viele Menschen, sollte er in die Vereinigten Staaten ausgeliefert und strafrechtlich verfolgt werden.
Ich bin keine gerichtsmedizinische oder medizinische Expertin für Folter, aber ich kann Ihnen sagen, dass internationale Standards verletzt werden, wenn er in die USA überstellt wird. Und wir haben ernsthafte Bedenken hinsichtlich des Vorgehens. Assange ist nun schon mehr als zwei Jahre im Belmarsh-Gefängnis in London, während der COVID-19-Pandemie, unter Bedingungen, die seinen psychischen Gesundheitszustand verschlimmert haben.
Für uns ist klar, dass er gegen Kaution freigelassen werden sollte, bis das Verfahren im Vereinigten Königreich abgeschlossen ist. Wenn die Behörden die Auslieferung nicht einstellen, muss das Gerichtsverfahren fortgesetzt werden, aber in der Zwischenzeit sollte er freigelassen werden. Es kann nicht sein, dass ein Gerichtsurteil besagt, dass diese Person gefährdet ist, weil ihr geistiger Gesundheitszustand so labil ist, und sie dann trotzdem in Belmarsh festgehalten wird, was ihren geistigen Gesundheitszustand nur weiter verschlechtert.
Ja, wir haben ein Moratorium gefordert, bis ein starker, wirksamer und sinnvoller Rechtsrahmen geschaffen wurde, der die Menschenrechte berücksichtigt. Wir müssen gemeinsam einen Rahmen schaffen, in dem Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Oppositionspolitiker*innen und Anwält*innen nicht zur Zielscheibe dieser Software werden und – falls doch – über Rechtsmittel verfügen. Unsere Forderung dazu ist klar und deutlich.
Ich glaube, das wissen sie bereits. Regierungen kaufen bei diesem Unternehmen, sie können unter dem Vorwand kaufen, nur Kriminelle und mutmassliche Terrorist*innen zu verfolgen. Aber jedes neue Werkzeug, das ein Staat bekommt, kann dazu genutzt werden, dieses Werkzeug und die Macht für andere Zwecke zu missbrauchen. Es ist sehr klar, was mit dieser Spionagesoftware geschieht. Das ist wirklich ein Weckruf für den Rest der Welt, nicht darauf zu vertrauen dass Regierungen Spionagesoftware nur kaufen, um die so genannten bösen Jungs zu fangen, das ist einfach nicht wahr. Die Arbeit, die wir als technische Partner für den Pegasus-Bericht geleistet haben, und die Arbeit unserer Partner*innen von «Forbidden Stories», haben das aufgedeckt. Das ist eine so wichtige Geschichte, und wir hoffen, dass die Öffentlichkeit sich damit auseinandersetzen wird, um diese Art der Überwachung zurückzudrängen.
Genau das versuchen wir mit diesem Bericht über Pegasus, mit der Arbeit über Assange zu tun. Wer ist wirklich der*die Verursacher*in der Menschenrechtsverletzungen, wer verstösst gegen das humanitäre Recht, wer begeht Kriegsverbrechen? Es ist nicht Julian Assange, es sind nicht die engagierten Journalist*innen und Publizist*innen, die Informationen im öffentlichen Interesse an die Öffentlichkeit bringen.
Die Täter*innen dieser Verbrechen sind staatliche Akteur*innen oder Agent*innen des Staates, und deshalb ist Assange für sie eine Bedrohung. Und andere Medienschaffende, die dasselbe tun, sind eine Bedrohung, wenn sie die Staaten zur Rechenschaft ziehen. Das gefällt den Staaten nicht. Assange ist ein so wichtiger Testfall, weil er stellvertretend für all das steht. Wenn das Vereinigte Königreich ihn ausliefert, wenn die USA einen dermassen langen Arm ausstrecken kann, um einen ausländischen Verleger zu packen und ihn in die USA zu bringen, und sagen kann, dass er keine Rechte nach dem Ersten Verfassungszusatz hat, dann ist dies ein Präzedenzfall, der weit über den Fall Assange hinaus Schaden anrichten wird. Deshalb versuchen wir, das zu verhindern.