Das israelische Militär hat am 23. Juli mehrere Luftangriffe auf das Evin-Gefängnis in Teheran geflogen, bei denen zahlreiche Zivilist*innen getötet und verletzt wurden und die an mindestens sechs Stellen des Gefängniskomplexes erhebliche Schäden und Zerstörungen angerichtet haben. Dies belegen zahlreiche verifiziertes Videos, Satellitenbilder und Interviews mit Augenzeug*innen, Familienangehörigen von Gefangenen und Menschenrechtsverteidiger*innen.
Die Angriffe fanden während des Arbeitstages statt, zu einer Zeit, als viele Teile des Gefängnisses voller Zivilist*innen waren. Stunden später bestätigte das israelische Militär, dass es das Gefängnis angegriffen hatte, und hochrangige israelische Beamt*innen brüsteten sich in den sozialen Medien damit. Nach Angaben der iranischen Behörden wurden mindestens 80 Zivilist*innen – 79 Männer und Frauen sowie ein fünfjähriger Junge – getötet.
«... war ein Video zu sehen, das angeblich CCTV-Aufnahmen der Sprengung des Gefängnistors zeigt. Eine Analyse des Videos durch Amnesty International zeigt, dass das Material digital manipuliert wurde, wahrscheinlich unter Verwendung eines alten Fotos des Gefängnistors.» Video eines Posts auf X des israelischen Aussenministers Gideon Sa'ar
Nach dem humanitären Völkerrecht gilt ein Gefängnis oder ein Ort der Inhaftierung als ziviles Objekt, und es gibt in diesem Fall keine glaubwürdigen Beweise dafür, dass das Evin-Gefängnis ein rechtmässiges militärisches Ziel war.
«Die Beweise, die Amnesty International zusammengetragen hat, geben Grund zu der Annahme, dass das israelische Militär schamlos und absichtlich zivile Gebäude angegriffen hat. Angriffe auf zivile Objekte sind nach dem humanitären Völkerrecht streng verboten. Die wissentliche und absichtliche Durchführung solcher Angriffe stellt ein Kriegsverbrechen dar», sagte Erika Guevara Rosas, Senior Director for Research, Advocacy, Policy and Campaigns bei Amnesty International.
Zum Zeitpunkt des Anschlags waren etwa 1.500 bis 2.000 Gefangene im Evin-Gefängnis inhaftiert, darunter willkürlich inhaftierte Menschenrechtsaktivist*innen, Demonstrant*innen, politische Dissident*innen, Angehörige verfolgter religiöser Minderheiten sowie Doppelstaatsangehörige und ausländische Staatsangehörige, die häufig als diplomatisches Druckmittel festgenommen werden. Zu jeder Zeit hielten sich ausserdem Hunderte von Zivilist*innen in dem Gefängniskomplex auf. Der Angriff fand während der Besuchszeiten des Gefängnisses statt.
«Die israelischen Streitkräfte hätten wissen müssen, dass Luftangriffe auf das Evin-Gefängnis zu erheblichen Schäden an der Zivilbevölkerung führen können. Die Strafverfolgungsbehörden in aller Welt müssen sicherstellen, dass alle für diesen tödlichen Angriff Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden, auch durch Anwendung des Grundsatzes der universellen Gerichtsbarkeit. Die iranischen Behörden müssen ausserdem dem Internationalen Strafgerichtshof die Zuständigkeit für alle Verbrechen nach dem Römischen Statut übertragen, die auf ihrem Hoheitsgebiet begangen oder von dort aus verübt wurden», sagte Erika Guevara Rosas.
Am 23. Juni 2025 zwischen 11 und 12 Uhr Teheraner Zeit schlugen israelische Luftangriffe in einem Abstand von mehr als 500 Metern mehrere Stellen innerhalb des Evin-Gefängnisses ein und zerstörten oder beschädigten zahlreiche Gebäude und andere Einrichtungen innerhalb des Gefängniskomplexes sowie nahe gelegene Wohngebäude ausserhalb des Komplexes.
Das Evin-Gefängnis befindet sich in einem bewohnten Gebiet mit Wohngebäuden im Osten und Süden des Gefängnisses.
Satellitenbilder im Nahinfrarotbereich vom 10. April 2025 und 30. Juni 2025 zeigen die Zerstörung an vier verschiedenen Stellen im Süden und im Zentrum des Evin-Gefängnisses, wo wahrscheinlich Munition gelandet ist und in vielen Bereichen Brandspuren zu sehen sind, die wahrscheinlich von Fahrzeugen stammen, die Feuer fingen und auf Gebäude in der Umgebung übergriffen.
Im Süden des Gefängnisses wurde das Haupteingangstor zusammen mit der angrenzenden Mauer und dem östlich des Tors gelegenen Besucherinformationsgebäude zerstört. Das Gebäude westlich des Tors und das angrenzende Büro der Staatsanwaltschaft Shahid Moghaddas wurden erheblich beschädigt. Im südlichen Teil des Gefängnisses wurden ausserdem der Parkplatz und ein Gebäude neben der Quarantäneabteilung beschädigt. Von staatlichen Medien veröffentlichte und von Amnesty International überprüfte Aufnahmen zeigen auch strukturelle Schäden an den Wänden und dem Gerüst der Staatsanwaltschaft, was darauf hindeutet, dass die Wucht der Explosion tief in das Gebäude eingedrungen ist.
Die Behörden haben bisher die Namen von 57 Zivilpersonen genannt, die bei dem Angriff getötet wurden, darunter fünf Sozialarbeiterinnen, 13 junge Männer, die ihren Pflichtdienst als Gefängniswärter oder -verwalter leisteten, sowie 36 weitere Gefängnismitarbeiter*innen – 30 Männer und sechs Frauen – und das Kind eines Sozialarbeiters. Nachdem die Behörden öffentlich kritisiert worden waren, weil sie die Identität der getöteten Gefangenen, ihrer Angehörigen und der Anwohner*innen nicht bekannt gegeben hatten, veröffentlichten sie am 14. Juli 2025 einen Bericht, in dem zwei Namen genannt wurden: Mehrangiz Imanpour, ein Anwohner, und Hasti Mohammadi, eine Frau, die sich ehrenamtlich um Spenden für verschuldete Gefangene kümmerte. Amnesty International hatte bereits den Namen von Mehrangiz Imanpour sowie die Namen eines Gefangenen, Masoud Behbahani, einer Verwandten des Gefangenen, Leila Jafarzadeh, und eines Passanten, Aliasghar Pazouki, die ebenfalls getötet wurden, überprüft.
Eine informierte Quelle teilte Amnesty International mit, dass Leila Jafarzadeh getötet wurde, als sie das Büro der Staatsanwaltschaft aufsuchte, um eine Kaution für die Freilassung ihres inhaftierten Ehemanns zu hinterlegen.
Tiefer im südlichen Bereich des Gefängnisses wurden das Verwaltungsgebäude und ein kleineres Nebengebäude, in dem sich nach Angaben eines ehemaligen Gefangenen ein Büro der Sicherheitskräfte des Gefängnisses befand, erheblich in Mitleidenschaft gezogen, während mehrere benachbarte Gebäude zerstört wurden. Ein von staatlichen Medien veröffentlichtes und von Amnesty International überprüftes Bild zeigt einen scheinbaren Krater in der Westseite des Verwaltungsgebäudes, der zeigt, dass das erste Stockwerk nach unten eingestürzt ist.
Einem Bericht der staatlichen Medien vom 6. Juli 2025 zufolge wurden in dem Verwaltungsgebäude mindestens neun Frauen, ein Mann und ein Kind getötet. Shargh Daily und Hammihan, zwei bekannte iranische Zeitungen, nannten drei der Opfer in Berichten, die am 25. Juni bzw. 1. Juli 2025 veröffentlicht wurden. Dabei handelte es sich um die Sozialarbeiterin Zahra Ebadi, die zusammen mit ihrem fünfjährigen Sohn Mehrad Kheiri getötet wurde, und den Verwaltungsangestellten Hamid Ranjbari.
Ebenfalls wurden im zentralen Teil des Gefängnisses die medizinische Klinik, die Küche, die Abteilung 4, in der männliche Gefangene untergebracht sind, die Abteilung 209, die aus Einzelhaftzellen besteht und die Frauenabteilung erheblich beschädigt. Amnesty International bestätigte durch eine informierte Quelle den Namen eines getöteten Gefangenen in Abteilung 4, Masoud Behbahani. Er erlitt einen Herzinfarkt, als die Explosion ihn auf einen Stuhl warf und mehrere Gefangene auf ihn fielen. Der Quelle zufolge wurde er nicht in ein Krankenhaus, sondern in das Teheraner Gefängnis verlegt, wo er zwei Tage später an einem zweiten Herzinfarkt starb.
Im nördlichen Teil des Gefängnisses wurden das Eingangstor und die angrenzende Mauer zerstört; der vordere Teil des Gebäudes, in dem sich der Justizkomplex Shahid Kachouyee und das Besuchsgebäude befinden, wurde erheblich beschädigt, und zwei Innenwände in der Nähe der Abteilungen 240 und 241, in denen Gefangene untergebracht sind, wurden zerstört.
Bestätigte Video- und Fotoaufnahmen zeigen auch Schäden durch die Explosion an nahe gelegenen Wohnhochhäusern und Fahrzeugen ausserhalb des nördlichen Bereichs des Evin-Gefängnisses. Ein Video zeigt Dutzende von verzweifelten Menschen in der Ahmadpour-Strasse, von denen mindestens einer verletzt zu sein scheint. Eine informierte Quelle beschrieb Amnesty International, wie eine Anwohnerin, Mehrangiz Imanpour, auf dem Heimweg getötet wurde. Shargh Daily berichtete, dass ein weiterer Passant, Ali Asghar Pazouki, vor dem Justizkomplex und dem Besuchsgebäude getötet wurde.
Innerhalb weniger Stunden nach dem Angriff brüsteten sich hochrangige israelische Beamte in den sozialen Medien damit und bezeichneten ihn als «gezielten Schlag» gegen ein «Symbol der Unterdrückung des iranischen Volkes». Israels Verteidigungsminister Israel Katz erklärte auf X, dass die israelischen Streitkräfte mit «beispielloser Gewalt Ziele des Regimes und staatliche Repressionsorgane im Herzen Teherans, einschliesslich des Evin-Gefängnisses», angreifen würden.
Minuten später postete Aussenminister Gideon Sa'ar auf X: «Wir haben den Iran immer wieder gewarnt: Hört auf, Zivilisten anzugreifen! Sie haben weitergemacht, auch heute Morgen. Unsere Antwort: [Es lebe die Freiheit...].« Neben diesem Beitrag war ein Video zu sehen, das angeblich CCTV-Aufnahmen der Sprengung des Gefängnistors zeigt. Eine Analyse des Videos durch Amnesty International zeigt, dass das Material digital manipuliert wurde, wahrscheinlich unter Verwendung eines alten Fotos des Gefängnistors. Das Video wurde zuerst auf persischsprachigen Telegram-Kanälen veröffentlicht, aber Amnesty International konnte die ursprüngliche Quelle nicht ausfindig machen.
Später am selben Tag bestätigte das israelische Militär in einer Erklärung, dass es einen «gezielten Angriff auf das berüchtigte Evin-Gefängnis» durchgeführt habe. Die Erklärung schien den Angriff damit zu rechtfertigen, dass dort «Feinde des Regimes» festgehalten und gefoltert würden und dass in dem Gefängnis «Geheimdienstoperationen gegen den Staat Israel, einschliesslich Gegenspionage» durchgeführt würden. Das Verhör von Gefangenen, die der Spionage für Israel beschuldigt werden, oder die Anwesenheit von Geheimdienstmitarbeiter*innen auf dem Gelände des Gefängnisses machen die Strafvollzugseinrichtung selbst jedoch nicht zu einem legitimen militärischen Ziel im Sinne des humanitären Völkerrechts.
Das Evidence Lab von Amnesty International analysierte Satellitenbilder von vor und nach den Angriffen und verifizierte 22 Videos und 59 Fotos, die umfangreiche Schäden und Zerstörungen in sechs Bereichen im Süden, im Zentrum und im Norden des Evin-Gefängniskomplexes zeigen.
Darüber hinaus überprüfte Amnesty International Erklärungen israelischer und iranischer Behörden und befragte 23 Personen innerhalb und ausserhalb des Irans, darunter Anwohner*innen, Angehörige von Gefangenen, ehemalige Gefangene, und Journalist*innen. Die Organisation erhielt ausserdem die Aufzeichnungen von vier Telefongesprächen zwischen vier Gefangenen und ihren Familien wenige Stunden nach dem Angriff.
Amnesty International richtete am 3. Juli Fragen zu dem Angriff an den israelischen Verteidigungsminister. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lag noch keine Antwort vor.
Medienmitteilung 22. Juli 2025, London/Bern – Medienkontakt