Neun Jahre nach der Entführung von 276 Schüler*innen einer Schule in Chibok durch Boko Haram werden immer noch 98 Mädchen gefangen gehalten. Zudem haben seither weitere Entführungen stattgefunden. Dies offenbart das Versagen der nigerianischen Behörden, aus dem schrecklichen Ereignis von Chibok zu lernen und die Kinder zu schützen, sagt Amnesty International.
«Es ist an der Zeit, dass die nigerianischen Behörden sinnvolle Massnahmen ergreifen, um bewaffneten Gruppen wie Boko Haram entgegenzutreten.» Isa Sanusi, stellvertretender Direktor von Amnesty International Nigeria
Seit der Entführung der Chibok-Schüler*innen durch Boko Haram wurden zahlreiche Schulen angegriffen, Mädchen entführt, vergewaltigt, getötet oder zu Zwangsehen gezwungen. Zwischen Dezember 2020 und März 2021 wurden in Nordnigeria mindestens fünf Fälle von Entführungen gemeldet, unter anderem aus Schulen in Kankara, Kagara, Jangebe, Damishi Kaduna, Tegina und Yawuri, während die Bedrohung durch weitere Angriffe zur Schliessung von über 600 Schulen im Norden des Landes geführt hat. Die nigerianischen Behörden haben jedoch keine einzige glaubwürdige Untersuchung der Sicherheitsmängel durchgeführt, durch die die Kinder den Gräueltaten von Boko Haram und bewaffneten Männern ausgeliefert waren.
«Es ist an der Zeit, dass die nigerianischen Behörden sinnvolle Massnahmen ergreifen, um bewaffneten Gruppen wie Boko Haram und bewaffneten Männern entgegenzutreten», sagte Isa Sanusi, stellvertretender Direktor von Amnesty International Nigeria.« Nigeria ist verpflichtet, Massnahmen zum Schutz aller Kinder zu ergreifen. Die fehlende Rechenschaftspflicht für diese grausamen Verbrechen fördert die Straflosigkeit. Die vermissten Chibok-Schüler*innen sollten zu ihren Familien zurückkehren, und alle, die für die schweren Verbrechen verantwortlich sind, müssen vor Gericht gestellt werden.»
Ende März interviewte Amnesty International fünf vor Boko Haram geflohene Chibok-Schüler*innen und ihre Eltern. Sie sagten, sie hätten fast alle Hoffnung verloren, dass die anderen 98 Mädchen jemals gerettet werden würden.
Eine der Rückkehrer*innen sagte zu Amnesty International: «Die nigerianische Regierung sollte die übrigen 98 Mädchen nicht vergessen. Sie sollten gerettet werden. Jeden Morgen wache ich auf und erinnere mich an den Zustand, in dem ich sie zurückgelassen habe. Ich weine und habe Mitleid mit ihnen. Neun Jahre sind zu lang, um in einem so erbärmlichen Zustand zu sein. Die Regierung muss ihr Versprechen, alle Mädchen zu retten, einlösen.»
Die Eltern der Opfer sind besorgt darüber, dass die Mädchen, die sich geweigert haben, von Boko Haram «verheiratet» zu werden, täglich brutalen Behandlungen ausgesetzt sind.
Ein Elternteil sagte gegenüber Amnesty International: «Unser Schmerz ist endlos, denn 14 der Mädchen kamen mit 24 Kindern zurück. Wir haben Enkelkinder bei uns, deren Väter uns unbekannt sind. Unsere Last hat sich nun vervielfacht, da wir nicht das Geld haben, um die zusätzliche Last der Ernährung, der Ausbildung und der Gesundheitsfürsorge für unsere zurückgekehrten Kinder und Enkelkinder zu tragen. Hinzu kommen die gesellschaftliche Ablehnung und die Stigmatisierung, mit der wir alle konfrontiert sind. Wir sind hoffnungslos!»
Eltern von Chibok-Mädchen, die immer noch von Boko Haram festgehalten werden, berichteten Amnesty International, dass die nigerianischen Behörden nicht mehr mit ihnen kommunizierten und sie im Stich gelassen hatten.
Seit Februar 2021 kam es in den nördlichen Regionen Nigerias wiederholt zu Angriffen auf Schulen und religiöse Einrichtungen. Von den mehr als 780 Kindern, die gegen Lösegeld entführt wurden, befinden sich mehr als 61 Kinder zwei Jahre nach ihrer Entführung durch bewaffnete Männer immer noch in Gefangenschaft. Viele Schulen in der Region wurden aufgrund der zunehmenden Unsicherheit geschlossen − und bleiben dies auch weiterhin.
«Die Rettung der verbleibenden Chibok-Mädchen ist von grösster Bedeutung; die Aufgabe, sie zu finden, darf nicht zu einem weiteren gescheiterten Projekt der Regierung werden. Es ist absolut entscheidend, dass die nigerianische Regierung alles in ihrer Macht Stehende tut, um diese Mädchen − wie auch alle anderen Kinder, die von verschiedenen bewaffneten Gruppen festgehalten werden − nach Hause zu ihren Familien zu bringen», sagte Isa Sanusi.
Im April 2014 wurden 276 Schüler*innen aus einer staatlichen Sekundarschule in Chibok, einer Stadt im Bundesstaat Borno, entführt. Einige der Mädchen konnten aus eigener Kraft entkommen, andere wurden später nach intensiven Kampagnen von Organisationen der Zivilgesellschaft und Verhandlungen der Regierung freigelassen. Von den ursprünglich Entführten befinden sich jedoch noch 98 Mädchen in Gefangenschaft. Amnesty International dokumentiert die Gräueltaten von Boko Haram und die Angriffe auf Schulen seit 2012: Im Mai 2020 veröffentlichte Amnesty International ausserdem einen Bericht über die schrecklichen Auswirkungen des Konflikts im Nordosten Nigerias auf Kinder.
Medienmitteilung 14. April 2023, London/Bern – Medienkontakt