Abdulkarim Sadi: Seit Anfang 2018 haben wir durch unser Monitoring festgestellt, dass die Armee in der Westbank verstärkt auch Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren verhaftet. Sie werden von der Armee meistens mitten in der Nacht festgenommen, auch Kindern werden die Augen verbunden und die Hände zusammengebunden. Stunden später werden sie – müde, hungrig und verängstigt – von der israelischen Polizei befragt, ohne von einem Anwalt oder einem Familienmitglied begleitet zu werden. Oft erst Tage später werden sie in eine Haftanstalt innerhalb Israels gebracht. Dieser Transfer in ein Gefängnis in Israel ist gegen internationales Recht. E
Wenn die israelischen Soldaten in palästinensische Wohngebiete eindringen, werden sie oft von Kindern mit Steinen beworfen. Die Soldaten reagieren zumeist mit Tränengas und Gummigeschossen. Dieses Steinewerfen reicht als Grund, die Kinder zu verhaften. Das Ziel dieser Festnahmen sind natürlich die Eltern, die palästinensische Gesellschaft. Sie soll in ihrem Herzen getroffen werden.
B’Tselem hat den Umgang mit verhafteten Kindern untersucht und dokumentiert. Wir haben viele Minderjährige, die verhaftet wurden, und ihre Familien interviewt. Fast alle Kinder sagten aus, dass sie vernommen wurden, ohne dass eine erwachsene Begleitperson dabei gewesen wäre. Die Polizei verwendete dabei harte Befragungstechniken, wie Anbrüllen oder Drohungen gegen ihre Familien. Man bedenke: Das sind Kinder!
Ja, unsere Studien bestätigen dies. Einige sprechen von Schlägen, anderen wurde das Trinken oder Nahrung sowie der Gang zur Toilette verweigert. Es gibt auch sexuelle Übergriffe. Dazu kommt Schlafentzug und natürlich, dass sie von ihren Eltern getrennt werden. Ich habe Kinder getroffen, die ihre Eltern bis zu sechs Monate nicht sehen durften. Sie sahen sie letztmals vor Gericht und dort durften sie nicht einmal mit ihnen sprechen.
Natürlich verletzt Israel die Kinderrechtskonvention, und nicht nur diese. Die israelischen Behörden verteidigen sich damit, dass die Kinder von den Eltern zu Gewalt- akten angestiftet würden. Das finde ich eine unerhörte Unterstellung! Es sind die israelischen Soldaten, die schwerbewaffnet in die Quartiere, Gärten und Wohnungen der Familien eindringen. Sie sind es, die provozieren, nicht die Kinder. Die Besatzung kam zu ihnen, nicht umgekehrt.
Zunächst: Nicht Ahed Tamimi suchte die Konfrontation, sondern die Soldaten, die auf das Grundstück ihrer Familie eindrangen. Zweitens ist eine Strafe von 8 Monaten für eine Jugendliche für das Ohrfeigen eines Soldaten absolut absurd. Der israelische Soldat, der in Hebron einen wehrlosen Palästinenser in aller Öffentlichkeit erschossen hatte, erhielt im Vergleich nur 9 Monate.
Ich denke, dass die Art und Weise, wie palästinensische Kinder behandelt werden, nur dazu dient, den Konflikt und damit die Besatzung zu zementieren. Wenn israelische Eltern wüssten, wie ihre Söhne und Töchter sich während des Militärdienstes in der Westbank benehmen und was sie tun müssen… Doch die Regierung versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass Informationen über den Besatzungsalltag in Israel bekannt werden und dass sich Israelis und Palästinenser begegnen.
Gemäss Unicef, Defense Children International, B'Tselem und weiteren Menschenrechtsorganisationen werden jährlich rund 700 Kinder und Jugendliche aus der Westbank durch israelische Militärgerichte strafrechtlich verfolgt. Die häufigste Anklage gegen Kinder ist das Werfen von Steinen, ein Verbrechen, das mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Seit 2000 wurden mehr als 12'000 palästinensische Kinder und Jugendliche inhaftiert.
Gemäss der Uno-Konvention über die Rechte des Kindes dürfen Minderjährige bis 18 Jahre nur als letztes Mittel und für den kürzesten angemessenen Zeitraum festgenommen und inhaftiert werden. Israel hat die Konvention 1991 ratifiziert. Für die PalästinenserInnen in der Westbank gilt jedoch seit 1967 das Militärrecht. Dieses wird ständig angepasst. Um den internationalen Standards stärker entgegenzukommen, wurde 2009 ein Jugend-Militärgericht eingerichtet, welches aber nur für die Gerichtsverhandlung zuständig ist. Die Verhöre werden vom «normalen» Militärgericht durchgeführt, dem auch die Erwachsenen unterstehen. 12- bis 14-Jährige müssten nach 24 Stunden vor den Richter gebracht werden, 14- bis 16-Jährige nach 48 Stunden. Das wird jedoch oft nicht eingehalten. Dazu kommt, dass die Strafe nach dem Alter zum Zeitpunkt der Verurteilung und nicht nach dem Zeitpunkt der mutmasslichen Straftat bestimmt wird.
Nach einer Verurteilung werden 60 Prozent der palästinensischen Minderjährigen in Verletzung der Vierten Genfer Konvention in Gefängnisse innerhalb Israels überstellt. Aufgrund der Schwierigkeit für PalästinenserInnen, eine Aufenthaltsgenehmigung für Israel zu erhalten, können die Minderjährigen nur begrenzte oder gar keine Familienbesuche erhalten. (mre)