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Kultur

Verbindende Trauer

Rami Elhanan und Bassam Aramin haben beide ihre Töchter im israelisch-palästinensischen Konflikt verloren. «Apeirogon» erzählt von Versöhnung und Gerechtigkeit statt von Rache – eine wahre Geschichte, die doch an einen Traum erinnert.

Details

Tausende Bücher sind über den Nahostkonflikt bereits geschrieben worden, doch keines ist wie der Roman des irischen Schriftstellers Colum McCann: Mit «Apeirogon» gelang ihm ein Kunstwerk mit einer ganz eigenen Form und einer grossen erzählerischen Kraft.

«Apeirogon» erzählt von der unendlichen Liebe zweier Väter zu ihren verstorbenen Töchtern. Kein Tag vergeht ohne den Gedanken an sie, kein Tag ohne das Gefühl der Leere, die ihr Tod hinterlassen hat. Smadar stirbt 1997 in Jerusalem mit 13 Jahren, zerfetzt von der Bombe eines palästinensischen Selbstmordattentäters. Die 10-jährige Abir wird 2001 auf einem Schulhof im Westjordanland von einem Gummigeschoss getötet, das von einem israelischen Soldaten auf ihren Hinterkopf gefeuert wurde.

Beide Väter waren in ihrem früheren Leben Kämpfer: Rami, der Israeli, war 1973 im Jom-Kippur-Krieg an der Front. Der Palästinenser Bassam sass als Jugendlicher wegen eines Handgranaten-Anschlags auf einen Militärjeep jahrelang in israelischer Haft.

Die Suche von Bassam und Rami nach Gerechtigkeit und Versöhnung bringt sie schliesslich zusammen; es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Sie werden zu zwei der heute bekanntesten Gesichter der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung. Gerade erst im November 2022 traten die beiden auf einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe in mehreren Schweizer Städten auf.

Collum McCann dokumentiert ihre Geschichte anhand von Recherchen und Gesprächen, die er vor Ort geführt hat. Im biografischen und zugleich fiktionalen Roman vermischen sich Fakten, Erinnerungen und Bilder zu einem komplexen Muster, daher der Titel: Der Begriff «Apeirogon» bezeichnet eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten.

1001 Geschichten aus einer Welt, zerrüttet von Jahren der Gewalt und doch getragen von einer fragilen Schönheit.

Die Erzählung strukturiert sich in kleine Fragmente, die sich in Vor- und Rückblenden zu einem grossen Bild des Nahostkonflikts verweben. 1001 kurze Kapitel hat der Roman, 1001 Geschichten aus einer Welt, zerrüttet von Jahren der Gewalt und doch getragen von einer fragilen Schönheit. Es ist ein sentimentaler Erfahrungsbericht, ein Kaleidoskop epochaler wie kurioser Geschichten aus dem umkämpften Land und zugleich eine feurige Anklage gegen die Spirale des Hasses, in der sich Israel und Palästina seit Jahrzehnten drehen.

Collum McCann schafft es, eine Stimmung zu vermitteln, die uns in eine Sternennacht über Jericho versetzt, in eine Motorradfahrt vorbei an Kontrollposten und Sperranlagen, in die tiefe Melancholie eines trauernden Vaters. «Nicht ich bin hier das Opfer, sondern Sie», sagt Bassam zu dem jungen Soldaten, als endlich ein Zivilprozess seiner Familie recht gibt und bestätigt, dass die israelische Armee für den Tod des Mädchens verantwortlich ist, obwohl sie dies jahrelang bestritten hat.

Was nach der Lektüre von «Apeirogon » bleibt, ist ein Gefühl der Verbundenheit mit den beiden Protagonisten und ihrem gewaltlosen, tapferen Kampf für Gerechtigkeit. Ein Roman, der den Traum in sich trägt, dass es doch einen Weg zur Versöhnung gibt.