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Amnesty-Magazin September 2023: Georgien

Ein Tal voller Stacheldraht

Seit dem Ende des Kaukasuskriegs im August 2008 baut Russland eine künstliche Grenze im Herzen Georgiens, um die Abspaltung Südossetiens zu besiegeln – mit schwerwiegenden Folgen für die Gemeinden entlang der Demarkationslinie.

Details

Gia Bakradze lebt in einem der Häuser am Fluss, gegenüber dem von Südossetien kontrollierten Gebiet, einer kleinen selbst ernannten Republik, die sich 1992 von Georgien abgespalten hat. Er sieht jeden Tag russische Soldat*innen vor seinem Haus patrouillieren, direkt auf der anderen Seite des Wasserlaufs. «Wir sind eine kleine Familie, die vor Kurzem aus der Hauptstadt Tiflis zurückgekehrt ist.», sagt der Ingenieur, der die georgische Regierung beschuldigt, machtlos gegen das zu sein, was viele Bürger* innen als die Besetzung ihres Landes durch Russland betrachten.

In den letzten zehn Jahren sind in den ländlichen und bergigen Gebieten Georgiens zahlreiche Sicherheitsinfrastrukturbauten entstanden. Gräben, Palisaden, Stacheldrahtzäune, Beobachtungstürme und Überwachungskameras säumen die ehemalige administrative Demarkationslinie der autonomen Region Südossetien.

Perevi, das Dorf, in dem Gia lebt, liegt in einem engen Tal in den Ausläufern des Grossen Kaukasus. Hier leben vorwiegend Georgier*innen und Osset*innen, ein aus dem Iran stammendes Volk, das sich vor langer Zeit in der Region niedergelassen hat. Als Georgien 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, brach ein Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen aus. Südossetien, ein Gebiet, das etwa fünf Prozent der Fläche Georgiens ausmacht, erklärte sich anschliessend für unabhängig.

Nach dem Ende des Kaukasuskriegs im August 2008 war Russland der erste Staat, der die Souveränität Südossetiens anerkannte. Seitdem leistet der Republik umfangreiche militärische Unterstützung, insbesondere bei der Kontrolle der «Grenzen». Es sind hauptsächlich russische Soldat*innen, die patrouillieren und die Sicherheitsinfrastruktur aufbauen, um den Übertritt zwischen den beiden Gebieten zu verhindern.

Fehlende Bewegungsfreiheit

Auf politischer Ebene, aber auch für die Dorfbewohner*innen ist der Verlauf dieser «Grenzen» unklar. Sowohl die südossetischen als auch die russischen Behörden stützen ihre Gebietsansprüche auf alte, ungenaue sowjetische Karten. Wie der Grossteil der internationalen Gemeinschaft erkennen die georgischen Behörden Südossetien nicht als unabhängige politische Einheit an und weigern sich, über die genaue Lage der sogenannten Besatzungslinie zu berichten. Sie beschuldigen Russland jedoch, die Grenzen Südossetiens ausdehnen zu wollen.

Diese Grenzziehung betrifft nach Angaben von Amnesty International etwa 34 georgische Dörfer. Die Folgen: Bewohner* innen verlieren den Zugang zu Ackerland, Weiden, Wäldern und manchmal auch zu Friedhöfen und Kirchen. «Früher war der Pastoralismus sehr wichtig. Aber seit dem Krieg ist die Zahl der Kühe im Dorf von 1000 auf 200 gesunken. Ich hatte sieben Kühe, jetzt habe ich nur noch eine. Jetzt können wir nur noch Bohnen und Kartoffeln anbauen», sagt Guram Shukakidze, der Schulleiter von Perevi.

Amnesty International berichtete 2019 von den Auswirkungen der Grenzziehung, insbesondere von Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, willkürliche Verhaftungen und einem sinkenden Lebensstandard. Darüber hinaus können sich Georgier*innen wie Osset*innen nicht mehr frei bewegen, um ihre Verwandten zu treffen, die auf der anderen Seite der neuen «Grenze» leben. Jedes Jahr werden Dutzende georgische Staatsbürger* innen wegen «illegalen Grenzübertritts » nach Südossetien verhaftet. Während die meisten gegen Zahlung einer Geldstrafe wieder freigelassen werden, werden einige Personen in der Haft misshandelt und gefoltert. Der symbolträchtigste Fall ist der von Archil Tatunaschwili, der 2018 während seiner Inhaftierung starb: Bei der Autopsie wurden an seinem ganzen Körper mehr als 100 Verletzungen und nicht weniger als 20 Armbrüche gezählt.

Teilungen und Spannungen

In grenznahen Gebieten kommt es immer wieder zu Spannungen. So etwa im August 2019 in einem grossen Wald zwischen dem georgischen Dorf Chorchana und dem Dorf Tsnelisi, einem Gebiet, das unter georgischer Kontrolle steht, aber von den ossetischen Behörden beansprucht wird. Die Bewohner*innen beider Dörfer konnten eine direkte Konfrontation vermeiden, doch dann wurden in dem hügeligen Gebiet zahlreiche militärische Beobachtungsposten errichtet. Seither trauen sich die Menschen aus Chorchana nicht mehr in den Wald, um Holz zu hacken oder Pflanzen zu pflücken. Sie haben Angst, von russischen Soldat*innen wegen illegalen Überschreitens einer «Grenze», die hier nicht materialisiert ist, festgenommen zu werden.

Die Dörfer in der Nähe der Demarkationslinie sind in der Folge besonders stark von Landflucht betroffen, die Menschen ziehen in die Hauptstadt Tiflis, aber auch ins Ausland. «Vor der Grenzziehung hatte ich ein paar Kühe und pflückte Jonjoli-Knospen. Das reichte gerade aus, um etwas zu essen zu haben», sagt die 40-jährige Irma, die jetzt in Deutschland arbeitet. «Ich habe Angst, dass die Russen eines Tages kommen, um dieses Gebiet zu übernehmen.»

Als Reaktion auf die Spannungen im Wald von Chorchana haben die separatistischen Behörden 2019 beschlossen, die wenigen offiziellen Grenzübergänge zwischen den beiden Gebieten vollständig zu schliessen, obwohl die Einreise nach Südossetien bereits vom Besitz schwer zu beschaffender Dokumente abhängig ist. Eine Entscheidung, die aufgrund der Covid-19-Pandemie verlängert und erst im Sommer 2022 rückgängig gemacht wurde. Dies hatte dramatische Folgen für die Georgier*innen, die noch auf südossetischer Seite lebten. Es gab keine Möglichkeit mehr, die «Grenze» aus familiären oder medizinischen Gründen zu überqueren.

Die Folgen der Grenzschliessung erlebte auch Maia Nikolaishvili. «Wir haben über zwei Jahre gewartet, bis wir unseren Sohn Bakuri wieder sehen konnten», sagt die Kunstlehrerin an der Schule in Perevi. Mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern zog sie auf die georgische Seite, als die Grenzübergänge geschlossen wurden. Ihr Sohn blieb allein in Karzmani zurück, einem fünf Minuten von Perevi entfernten, aber unter südossetischer Kontrolle stehenden Weiler, um sich um den Familiensitz und das Vieh zu kümmern.

Derzeit sind «Grenzübertritte nur an zehn Tagen im Monat erlaubt. Diese Bedingungen machen es Maia unmöglich, wieder in ihr altes Haus zu ziehen. Sie hofft auf den Abzug der russischen Truppen und ein friedliches Zusammenleben zwischen Georgier*innen und Osset*innen. Dieses hängt von der Unterzeichnung eines Friedensabkommens ab, dessen Verhandlungen vor vielen Jahren ins Stocken geraten sind. Die Entwicklung dieses Konflikts hängt auch stark vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ab, der Russlands Einfluss in der Kaukasusregion für die kommenden Jahrzehnte bestimmen wird.