Das fünfstöckige Gebäude an der Ecke der Pabayo Street im Zentrum von Cagayan de Oro, einer Grossstadt im Süden der Philippinen, sieht auf den ersten Blick wie jedes andere aus: Eingeklemmt zwischen zwei anderen baufälligen Gebäuden, hat es eine seelenlose weisse Fassade, von der die Farbe abblättert, und dicke Jalousien, die vor der tropischen Sonne schützen. Für Passant*innen ist es schwer vorstellbar, dass dieses anonyme Gebäude eine Rolle im weltweiten Wettlauf um die künstliche Intelligenz spielt. Sobald man den Sicherheitsposten am Eingang passiert hat, befindet man sich in einem wahren Bienenhaus. In Dutzende fensterlose Räume, die jeweils durch Digicodes – elektronische Türschlösser mit Zahlencodes – geschützt sind, wurden möglichst viele Computer reingestellt. Mehrere Hundert junge Leute arbeiten hier emsig unter dem strengen Blick der Aufsichtspersonen. Über die Bildschirme laufen lange Reihen von Computercodes, die auf der gegenüberliegenden Seite des Pazifiks vorbereitet wurden – entwickelt in den Büros von Google, Apple, Amazon, OpenAI und anderen multinationalen Unternehmen des Silicon Valley.
Die Informatiker*innen in Cagayan de Oro arbeiten unter Hochdruck: Sie müssen ihren Anteil an Daten so schnell wie möglich analysieren und dann in Software umwandeln. Im Fachjargon werden diese Daten «annotiert»: Relevante Informationen und Metadaten werden in einem Datensatz mit Labels oder Tags versehen, damit Maschinen sie verstehen können. Anschliessend werden die Daten in die USA zurückgeschickt. Denn um ihre Algorithmen trainieren zu können, benötigen die Big-Tech-Konzerne riesige Mengen solcher annotierter Daten. Ohne diese Annotationen würde ChatGPT nur Unsinn von sich geben, selbstfahrende Autos würden nicht an der roten Ampel anhalten, und die Entwicklung von Smartphones würde stark gebremst werden.
Hier in den tristen Räumlichkeiten auf den Philippinen wird Tag und Nacht gearbeitet, sieben Tage in der Woche. «Ich komme von Montag bis Samstag jeweils um sechs hierher, manchmal auch am Sonntag», sagt der 23-jährige Kieffer. Der schlanke junge Mann holte sich gerade ein paar Fleischspiesse auf der gegenüberliegenden Strasse. An seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, sagt er: «Wir arbeiten im Dreischichtbetrieb: Eine Schicht arbeitet morgens, eine nachmittags und eine nachts, jeweils mit einer halben Stunde Mittagspause.» Insgesamt sind es rund 1000 Arbeiter*innen, die sich hier abrackern. Im Raum, in dem Kieffer seinen Platz hat, drängen sich etwa 20 seiner Kolleg*innen auf 15 Quadratmetern.
Ein grün-weisses Logo in einer Ecke ihres Bildschirms verrät, wer ihr Arbeitgeber ist: Remotasks, eine Tochtergesellschaft des amerikanischen Start-up-Unternehmens ScaleAI. Das Unternehmen wurde 2016 in San Francisco von Alexandr Wang gegründet, einem Genie des berühmten Massachusetts Institute of Technology. ScaleAI hat sich darauf spezialisiert, weltweit führende KI-Unternehmen mit Daten zu versorgen. Mit finanziellem Erfolg: Bei der letzten Kapitalerhöhung im Jahr 2021 wurde ScaleAI mit fast sieben Milliarden Euro bewertet. Der Markt für Datenannotationen wird sich bis zum Ende des Jahrzehnts voraussichtlich verzehnfachen und auf neun Milliarden US-Dollar ansteigen.
Keine der von Remotasks beschäftigten Personen hat einen Arbeitsvertrag.
Um den unersättlichen Datenhunger des Silicon Valley zu stillen, hat Remotasks ein Netzwerk von rund 240 000 Mitarbeiter*innen in mehreren Ländern des globalen Südens aufgebaut. Ein Grossteil von ihnen lebt in den Philippi nen. Das Herzstück dieses Netzwerks von Mitarbeiter*innen ist eine Online-Plattform, über die die zu annotierenden Daten in alle Ecken der Welt verteilt werden. Jeder dieser «Tasker» – wie sie bei Remotasks genannt werden – wird zunächst in einem Büro wie Cagayan de Oro ausgebildet, bevor er nach Hause zurückkehrt, um aus dem Homeoffice zu arbeiten.
Keine der von Remotasks beschäftigten Personen hat einen Arbeitsvertrag. Die Gehälter werden über den Online- Bezahldienst PayPal ausserhalb des nationalen Bankensystems ausgezahlt. Diese Arbeitsplätze existieren somit rechtlich gar nicht. «Mindestens 10 000 Menschen wurden allein in Cagayan de Oro ausgebildet. Auf dem Papier sind diese Leute unabhängige Subunternehmer*innen. Aber sie haben einen Vorgesetzten, Bürozeiten und sogar Zeitfenster für die Mittagspause. Das ist schlicht und einfach Ausbeutung», sagt ein ehemaliger Remotasks-Manager aus den Philippinen, der selbst Tausende dieser Leute ausgebildet hat, denen nichts übrigbleibt, als zu diesen prekären Arbeitsbedingungen zu arbeiten.
Auch der 27-jährige Cheiro ist Teil dieses Heers von billigen Arbeitskräften. Er sitzt in seiner Blechhütte, die in einem der Slums von Cagayan de Oro steht, und starrt auf einen alten Bildschirm: Cheiro untersucht eine Wolke aus Tausenden von Punkten, die auf einer dreidimensionalen Ebene verstreut sind. Er stellt das Ganze einem Foto gegenüber, das in San Francisco vom Armaturenbrett eines fahrenden Autos aus aufgenommen wurde. Cheiro wählt bestimmte Anhäufungen der Punkte aus und notiert ihre geometrischen Koordinaten in einer Software.
«Ich wiederhole diese Aufgabe etwa zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, oft nachts.» Cheiro, 27 Jahre alt und «Tasker»
Jeder dieser Punkte bildet die Reflexion des Laserlichts ab, das das selbstfahrende Auto auf seine Umgebung projiziert. «Ich muss die Formen identifizieren, um dem Fahrzeug zu helfen, ein anderes Auto von einem Fussgänger, einen Baum von einem Schild oder ein Tier von einem Gebäude zu unterscheiden. Ich wiederhole diese Aufgabe etwa zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, oft nachts», sagt er. «Wenn ich es richtig verstehe, werden diese Daten eines Tages dazu führen, dass künstliche Intelligenz die Fahrer*innen ersetzt», sagt er.
Unweit von Cheiros Haus sitzen Junbee und John-Henry, zwei Männer in den Zwanzigern, in einem Internetcafé, weil sie keinen eigenen Computer besitzen. Sie arbeiten an Fotos von Lebensmitteln. «Wir schneiden die Umrisse jedes Lebensmittels aus, bevor wir es in Software einspeisen, die dann lernen soll, die Lebensmittel zu identifizieren. Indem wir diese Aufgabe Tausende Male wiederholen, bringen wir der Maschine bei, die Objekte selbstständig zu erkennen. Diese Technologie ist bereits in die neuen iPhones eingebaut», erklärt John-Henry und klickt auf ein Foto von hartgekochten Eiern, die neben Müsliriegeln liegen.
«Ich arbeite seit fast vier Jahren sieben Tage die Woche für Remotasks. Ich verdiene etwa acht Dollar pro Tag, bei zehn bis zwölf Stunden täglicher Arbeit. Das ist weniger als der gesetzliche Mindestlohn. Ich habe null sozialen Schutz, aber ich habe keine andere Wahl. In dieser Ecke der Philippinen gibt es nur sehr wenige Arbeitsplätze», sagt Junbee. «Die andere Möglichkeit wäre, Drogen zu verkaufen. Ich will aber eine Zukunft haben», fügt John-Henry hinzu, dessen Eltern gerade mehrere Jahre wegen Drogenhandels im Gefängnis sassen.
Die Arbeiter* innen auf den Philippinen könnten bald ihre Jobs verlieren: Remotasks hat vor kurzem Büros in Nigeria und Venezuela eröffnet, wo die Arbeitskräfte noch billiger sind. Künstliche Intelligenz ist zwar eine neue Technologie, aber die Ausbeutung von Arbeitskräften, die für ihre Entwicklung notwendig sind, ist nichts Neues.