«Ich bin pünktlich zum Soufflé da», sagt Rubens Paiva zu seiner Frau Eunice, als er von Geheimpolizisten zu «Routinefragen» abgeholt wird. Doch der einstige Parlamentarier der brasilianischen Arbeiterpartei kehrt nicht zum Abendessen zurück. Am nächsten Tag nicht und auch nicht am übernächsten. Nie mehr.
Wir schreiben das Jahr 1971. Die Militärdiktatur in Brasilien erreicht ihre repressivste Phase. Alles, was nach links, studentischem Widerstand oder «Hippie » riecht, wird brutal unterdrückt. Laut einem Bericht der brasilianischen Wahrheitskommission von 2014 wurden während der längsten Diktatur Südamerikas (1964–1985) mindestens 434 Oppositionelle getötet oder «verschwanden», 20 000 wurden gefoltert. Die mutmasslich Tausenden Opfer indigener Gemeinschaften sind dort noch gar nicht eingerechnet.
Rubens Paiva ist einer der prominentesten Fälle von «Verschwindenlassen». Seine Geschichte erzählt der Regisseur Walter Salles (bekannt durch «Central Station») in seinem grossartigen Werk «I’m Still Here». Oder vielmehr die Geschichte von Eunice, denn der Film wird durchgehend aus der Perspektive der Ehefrau erzählt. Was hat mein Mann getan? Wohin wurde er gebracht? Wie schütze ich meine fünf Kinder? Was wollen die Geheimdienstler im Mafioso- Look, die sich in unserem Haus direkt am Strand von Rio de Janeiro einnisten?
Der Druck auf die Familie nimmt zu. Auch Eunice und die 15-jährige Tochter Eliana werden zu «Befragungen» abgeholt. In der atmosphärisch dichten Passage aus dem düsteren Militärgefängnis erleben die Kinogänger*innen die Willkür und den Terror fast körperlich mit, obwohl Walter Salles nicht die Gewalt inszeniert, sondern die reine Angst. Die Häftlinge unter Kapuzen, die Blutstropfen am Boden des Verhörraums, die Schreie aus der Ferne. Elf Tage lang werden Eunice die immer gleichen Alben mit Fotos der «Terrorismusverdächtigen » gezeigt.
Nach ihrer Freilassung sucht sie mithilfe ihres Freundeskreises vergeblich nach Rubens’ Inhaftierungsort – und muss gleichzeitig wegweisende Entscheidungen treffen: Was erzähle ich den Kleinsten, wo ihr Vater ist? Wie bestreite ich den Lebensunterhalt, wenn das patriarchalische System den Zugriff auf das Familienkonto verwehrt? Als der Verdacht zur Gewissheit wird, nimmt die zuvor unpolitische Mutter einen radikalen Schnitt vor. Ihr Karriereweg macht sie zu einer der renommiertesten Menschenrechtsanwältinnen des Landes. Jahrzehntelang sucht Eunice nach der Wahrheit im Fall Rubens Paiva. In zwei Zeitsprüngen wird ihre Geschichte zu Ende erzählt.
«I’m Still Here» verwebt die grossen Themen: Liebe, Macht, Angst, Mut, Widerstand, Erinnern, Vergessen. Getragen wird der Film von der phänomenalen Hauptdarstellerin Fernanda Torres, die zu Recht für einen Oscar nominiert wurde. Die 59-Jährige überzeugt in allen Ausdrucksformen des Gefühlsspektrums. Die Charaktere der Kinder treten innerhalb der strengen Chronologie nacheinander hervor. Maske, Soundtrack und Dekor lassen die 1970-er Jahre perfekt aufleben, mit wilden Bärten, eiernden Schallplatten und grobkörnigen Videoaufnahmen.
«Man tötet einen Menschen und verdammt alle anderen zu endlosem psychischem Leid», beschreibt Eunice viel später das Verbrechen des «Verschwindenlassens». Dass das zu oft vernachlässigte Thema in derart prominenter und eindrücklicher Weise ein Gesicht und eine Geschichte erhält, ist ein Glücksfall für die Menschenrechtsbewegung.