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AMNESTY-Magazin Juni 2025 – Buch

Befristete Macht

Weltweit sind Autokratien auf dem Vormarsch. Doch wie halten sich autokratische Herrscher*innen an der Macht? Und was führt zu ihrem Fall? Diesen Fragen geht der Politikwissenschaftler Marcel Dirsus in seinem Buch «Wie Diktatoren stürzen» nach.

Details

Im Dezember 2024 hat der Fall Bashar al-Assads in Syrien viele Menschen vollkommen überrascht. Sie auch?

Wenn ein Regime wie jenes von Assad schon so viele Jahrzehnte an der Macht ist, entsteht schnell der Eindruck, seine Existenz sei unausweichlich. Wenn aber auch nur ein Teil der Palastelite davon ausgeht, dass der Herrscher demnächst gestürzt werden könnte – dann fällt er erfahrungsgemäss oft auch sehr schnell. Dass in Damaskus Assads eigene Soldat*innen so rasch ihre Uniformen an den Strassenrand geschmissen und den Dienst quittiert haben, zeigt doch: Auch dieses Regime war nicht unausweichlich. Der Fragilität ihrer Alleinherrschaft sind sich auch die meisten Diktatoren bewusst. Ihre Regime funktionieren nach dem Prinzip «The winner takes it all».

… und wenn sie verlieren, dann verlieren sie alles.

Auch das wissen die meisten Tyrannen. Sie alle haben Angst vor ihrem eigenen Sturz und daher auch vor den eigenen Leuten. Sie wissen: Nach ihrem Sturz müssen sie wohl ins Exil, kommen ins Gefängnis oder werden getötet. Diese Angst der Diktatoren erklärt nicht alles – aber doch einen Grossteil ihrer Politik.

Nach welchen Mustern funktioniert so ein Sturz?

Um sich an der Macht zu halten, braucht ein Diktator meist nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung. Vor allem sind das Geheimdienstler*innen und Militärs inklusive ihrer Familien. Wer diese Gruppen verliert, verliert in der Regel auch die Macht. Und um das zu erreichen, gibt es sehr unterschiedliche Mittel und Wege. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass gerade friedlicher Protest relativ effektiv ist. Etwa 17 Prozent der Diktaturen stürzen als Folge von Volksaufständen. Und wenn man es schafft, einen Diktator ohne Gewalt zu stürzen, stehen die Chancen auf eine Demokratisierung verhältnismässig gut.

Um den Sturz einer Autokratie von aussen zu beschleunigen, setzen viele Länder auf Sanktionen und politische Ächtung. Sind das im Vergleich ebenfalls effektive Mittel?

Sanktionen sind oft eher Symbolpolitik. Aber da die Legitimität in der internationalen Politik auch für Diktatoren ein wichtiger Faktor ist, lassen sie sich auch durch Symbole schwächen. Doch um Diktatoren zu stürzen, muss man ihnen vor allem erschweren, die eigenen Leute um sich herum zu versorgen. Und das wird erheblich schwerer, wenn gezielte Sanktionen wichtige Geldflüsse in die Kasse der Machthaber unterbinden. Der Sturz von Diktatoren muss allerdings gar nicht immer das zentrale Ziel von Sanktionen sein. Manchmal ist schon viel damit erreicht, wenn man einem schrecklichen Tyrannen Kopfzerbrechen bereitet. Das sehen wir aktuell im Umgang mit Putin. Westliche Sanktionen werden ihn nicht zu Fall bringen, aber sie machen es für Russland schwieriger, den Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen.

Welche Rolle spielt die organisierte Zivilgesellschaft vor Ort?

Es ist faszinierend, dass es in der Geschichte immer wieder ganz normalen Leuten gelang, durch friedlichen Protest langjährige, etablierte Diktaturen zu Fall zu bringen. Der Mechanismus dahinter funktioniert so: Als Opposition muss man die Diktatur in eine Wahl zwischen Pest und Cholera zwingen. Denn sie kann Menschen auf der Strasse nicht einfach ignorieren. Wenn das Regime aber Gewalt einsetzt, dann führt das womöglich zu weiteren und grösseren Protesten. Dann sieht sich der Diktator möglicherweise zu einem Schiessbefehl gezwungen. Und genau in diesem Moment, in dem das Regime vermeintlich stark aussieht, fallen die Diktatoren oft, weil Sicherheitskräfte sich weigern, zu schiessen, oder weil Palasteliten, die früher viel mitgetragen haben, den aktuellen Kurs nicht mehr unterstützen. Ein Regime kollabiert dann unter dem Gewicht seiner eigenen Repression.

Braucht es für den Sturz eines Diktators das ganze Volk, wie es Parolen auf vielen Demonstrationen häufig suggerieren?


Nein, meist ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung nötig, der an den richtigen Orten des Landes mobilisiert werden muss. In der Hauptstadt, auf den grossen Plätzen. Das ist weniger schwer, als Menschen für eine Rebellion oder für einen Anschlag auf den Diktator zu gewinnen; erst recht, weil selbst in Ländern, in denen der politische Raum schon äusserst restriktiv ist, so wie etwa im Iran, öffentliche Proteste oft noch irgendwie möglich sind.

Wo ist das für Sie besonders eindrucksvoll gelungen?

Im Fall der DDR. Als im Oktober 1989 in Leipzig rund 70'000 Menschen auf die Strasse gingen, schwächte dies das Regime entscheidend. Dieser Gefahr waren sich auch die SED-Funktionär* innen bewusst. Zur Unterbindung der Proteste haben die Machthabenden öffentlich mit einem brutalen Vorgehen wie beim Tian’anmen-Massaker in China im selben Jahr gedroht. Und trotzdem haben sich die Menschen auf die Strasse getraut. Die Entscheidung, den Protest nicht niederzuschlagen, bedeutete den Anfang vom Ende der DDR.

… was am Ende auch eine Verkettung von Zufällen war.

Zufälle und Gelegenheitsfenster spielen beim Sturz von Diktaturen eine sehr wichtige Rolle. Für mein Buch sprach ich mit dem Aktivisten Siegbert Schefke, der damals den Protest gegen die DDR in Leipzig filmen wollte, was aufgrund der vielen Stasi-Mitarbeiter in der Stadt sehr gefährlich war. Mit Erlaubnis eines Pastors konnte Schefke die Proteste dann aber unentdeckt von einem Kirchturm aus filmen. Seine Aufnahme wurde anschliessend in die Bundesrepublik geschmuggelt und dort im Fernsehen gezeigt. So haben Millionen Menschen in der DDR überhaupt erst erfahren, dass es in ihrem eigenen Land diesen riesigen Protest gegen die Regierung gab.

In vielen Ländern haben ähnliche Proteste aber nicht zum Sturz der Herrschenden geführt, etwa im Iran oder in Belarus.


Diktaturen und ihre Entscheidungsfindung sind in der Regel so intransparent, dass es von aussen enorm schwer ist, festzustellen, wie knapp ein Regimesturz tatsächlich gescheitert ist. So etwa bei den Protesten in Belarus. Vielleicht waren wir kurz davor, dass ein bedeutender Teil der belarussischen Sicherheitskräfte sich weigerte, Befehle auszuführen. Oder vielleicht stand ein Putschversuch gegen Lukaschenko kurz bevor. Das sind Dinge, die wir im entscheidenden Moment und auch im Nachhinein meist nicht wissen. Aber selbst das Scheitern impliziert die Möglichkeit: Es hätte gelingen können.

Viele Autokrat*innen sind vollkommen von der Realität abgekoppelt. Muammar al-Gaddafi war hierfür ein besonders bizarres Beispiel. Was bedeutet das für den Umgang mit ihnen?

Die meisten Diktatoren sind skrupellos, grausam und oft auch narzisstisch. Aber in dem System, in dem sie operieren, denken und handeln sie durchaus rational. Und sie reagieren auf äussere Anreize. Das heisst: Man kann sie beeinflussen. Um Diktatoren wirkungsvoll zu bekämpfen, muss man daher ihre Perspektive, ihren Blick auf sich und die Welt kennen. Man muss verstehen, wie es Diktatoren gelingt, an der Macht zu bleiben, um zu ergründen, wie sie fallen.