Die geopolitischen Spannungen und neue Machtverhältnisse stellen das multilaterale System infrage. Die allgemeine Stimmung im Palais des Nations in Genf ist von grosser Unsicherheit geprägt.
Ich habe mir gleich zu Beginn meiner Amtszeit im Januar die Wiederbelebung der Diplomatie als Priorität gesetzt. Dabei denke ich vor allem an die informelle Diplomatie, die ausserhalb der offiziellen Sitzungen stattfindet. Die eigentlichen Verhandlungen finden oft bei einer Tasse Kaffee statt. Während der Covid-Pandemie sind diese Räume des Dialogs praktisch verschwunden. Hinzu kommt, dass die Gefahr von Indiskretionen in den sozialen Netzwerken die Möglichkeiten für vertrauliche Gespräche verringert hat. Aber heute ist es wichtiger denn je, diese Gepflogenheiten wieder aufzunehmen, sich Zeit für den Austausch zu nehmen, die Positionen der anderen anzuhören und zu erklären, warum man einen bestimmten Standpunkt vertritt.
Die Staaten treffen sich weiterhin und diskutieren. Ich bin beeindruckt von der Vielzahl der Themen, mit denen sich der Menschenrechtsrat befasst. Eine Mehrheit der Länder hat weiterhin Vertrauen in die Institutionen, die universelle Werte vertreten.
Da bin ich mir nicht so sicher. Wir stehen sicherlich am Ende eines drei Jahrzehnte währenden Zeitraums mit sehr günstiger Konjunktur. Aber vergessen wir nicht, dass der Multilateralismus den Kalten Krieg überlebt hat. Das multilaterale System hat sich immer anzupassen gewusst, es ist sehr widerstandsfähig.
Jedes Land verteidigt in erster Linie seine eigenen Interessen, das ist nichts Neues. Heute beobachten wir eine Tendenz, nationale Interessen enger zu definieren. Einige Staaten vergessen, dass ihr Wohlstand von der Stabilität ihrer Region und der Welt abhängt. Aber selbst ein mächtiges Land, das versucht sein könnte, einen unilateraleren Kurs einzuschlagen, braucht Verbündete und Unterstützung.
Seit 25 Jahren ist der wachsende Einfluss Chinas, der Golfstaaten und anderer Länder in den Vereinten Nationen zu spüren. Die multilaterale Ordnung ist ein Spiegelbild der geopolitischen Realität. Wenn sich also eine Macht wie die Vereinigten Staaten zurückzieht, werden andere dies nutzen, um ihre Vision einzubringen. Aber vergessen wir nicht, dass Organisationen durch Statuten geregelt sind. Im Zentrum der multilateralen Architektur stehen die Menschenrechte. Sie sind ein Kompass. Spannungen gibt es eher bei ihrer Umsetzung: Jedes Land hat sein eigenes Tempo und seinen eigenen Ansatz. Aber Menschenrechte haben ihre Wurzeln in den Zivilisationen auf der ganzen Welt. Letztendlich sind die Bedürfnisse überall dieselben: ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheitsversorgung, Mitbestimmung in der Gemeinschaft usw.
Ja. Auf diplomatischer Ebene ist unsere Position klar: Wir wollen Frieden, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Als Gaststaat bauen wir zudem die Instrumente für den Multilateralismus weiter aus, wir investieren in die Infrastruktur und die Dienstleistungen für die Vertreter*innen in Genf. Derzeit koordinieren wir uns mit anderen Mitgliedstaaten, um die multilaterale Arbeit weiter zu stärken. Ich stehe auch in Kontakt mit den bei uns ansässigen internationalen Organisationen, um zu verstehen, wie wir sie unterstützen können.
Wir bleiben in diesen Fragen standhaft. Wir haben die russische Invasion in der Ukraine verurteilt. Wir sind uns über die Bedeutung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts im Klaren und setzen uns weiterhin für eine Zweistaatenlösung ein. Die Schweiz hat sich auch stark für die 34. Internationale Konferenz des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) im letzten Jahr engagiert. Diese Konferenz hat die Bedeutung des humanitären Völkerrechts weltweit bekräftigt.
Die Schweiz nimmt ihre Rolle als Gaststaat der Uno und als Heimat des IKRK mit grosser Verantwortung wahr. Um unsere Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren, müssen wir einen langfristigen, kohärenten Ansatz verfolgen. Wenn es unsere Aufgabe ist, den Dialog zu fördern, um Lösungen zu finden, müssen wir sehr vorsichtig sein. Wenn es Sie beruhigt: Während unserer zweijährigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat wurden wir eindeutig als Stimme des Völkerrechts wahrgenommen.
Tatsächlich haben auch andere Länder diplomatische Kapazitäten aufgebaut. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Genf oder die Schweiz an Attraktivität verlieren. Viele Treffen, über die in den Medien nicht unbedingt berichtet wird, finden in Genf statt. Die Schweiz hat aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Infrastruktur und ihres diplomatischen Know-hows nach wie vor eine Rolle zu spielen. Und wir werden auch den USA weiterhin die Vorteile des Multilateralismus auch für eine Grossmacht aufzeigen. Glücklicherweise stehen wir nicht allein da. Es gibt immer noch sehr viele Länder, die bereit sind, den Multilateralismus und seine Werte zu verteidigen.