Leichter Regen prasselt auf die Bürgersteige von Lwiw und lässt die Pflastersteine glänzen. In der Ferne ertönt die Sirene eines Fliegeralarms. Niemand reagiert darauf, die Töne sind inzwischen zu vertraut. Im Westen der Ukraine, fernab der Frontlinien, geht der Alltag seinen Gang. Doch auch hier ist der Krieg allgegenwärtig. Am Eingang des Rehabilitationszentrums Unbroken ziehen Soldat*innen auf Rollstühlen oder auf Krücken wortlos aneinander vorbei. Einige hören Musik, die meisten rauchen, alle scheinen mit den Gedanken woanders zu sein. Die weissen Wände sind frisch gestrichen, es riecht nach Desinfektionsmittel.
Seit seiner Gründung im April 2023 hat das Zentrum Tausende von Patient*innen aufgenommen. «Unbroken ist eine Stadt in der Stadt», heisst es hier. Das Zentrum ist mit dem grössten Krankenhaus der Westukraine verbunden und hat sich zu einer weltweiten Referenz im Bereich der Prothetik und Wiederherstellungschirurgie entwickelt. Die Ärzt*in-nen vor Ort arbeiten mit Spezialist*innen aus Europa, den USA und Japan zusammen. Bionische Gliedmassen, Gesichtsrekonstruktionen, fortschrittliche Psychotherapie ... In Unbroken werden Körper repariert. Manchmal auch Seelen. Oft auch beides.
Doktor Hnat Herych, Leiter der chirurgischen Abteilung, sitzt bei einem dampfenden Kaffee in der Cafeteria und erinnert sich an die Anfänge des Krieges. «Schon in den ersten Monaten des Krieges wurde uns klar, dass die Notfallversorgung nicht mehr ausreichen würde. Wir mussten an die Zeit danach denken, an die Rehabilitation », sagt er. Ständig kämen neue Verwundete an, die völlig neue Traumata mit sich trügen. «Wir entwickeln ständig neue Behandlungsmethoden, um den Bedürfnissen gerecht zu werden.»
In einem Flur im fünften Stock der Klinik hängt das Porträt von Valentyna Kremniova. Die 72-Jährige aus einem Dorf nahe der russischen Grenze überlebte fünf Tage lang tägliche Bombenangriffe durch Russland allein in ihrem zerschossenen Haus, mit einem von einer Granate abgerissenen Bein. Sie befindet sich noch immer in der Rehabilitation und hat nur einen Traum: dank ihrer Prothese wieder laufen zu können, um ihr Zuhause, ihre Schneiderei und ihre Enkelkinder wiederzusehen.
Auch Oleksii träumte von einer Prothese – ein Traum, der in Erfüllung ging. Oleksii arbeitete auf Kreuzfahrtschiffen. Als Russland 2022 seine gross angelegte Invasion startete, hatte der ukrainische Seemann gerade erst wieder festen Boden unter den Füssen. Zusammen mit seiner im neunten Monat schwangeren Frau flüchtete er in den Westen. Oleksii junior wurde gesund und munter geboren. «Nachdem ich meine Familie in Sicherheit gebracht hatte, war es an der Zeit, meine Bürgerpflicht zu erfüllen», sagt Oleksii. Im Jahr 2023 trat er in die Armee ein. Anderthalb Jahre harte Kämpfe später landete er in der Rehabilitationsklinik. Eine Kamikaze-Drohne hatte ihm sein rechtes Bein genommen. Oleksii erinnert sich an den Schock, die Schmerzen. Und an die Versetzung nach Unbroken, wo sich alles änderte.
«Der Tag, an dem mir gesagt wurde, dass ich für eine Prothese bereit sei, war wie eine zweite Geburt», erinnert er sich. «Wenn meine Rehabilitation abgeschlossen ist, kann ich wieder an die Front gehen. Ich bin mir bewusst, dass meine Fähigkeiten nachgelassen haben, aber Unbroken wird es mir ermöglichen, weiterhin nützlich zu sein. Zum Beispiel als Drohnenpilot.»
500 Kilometer weiter östlich, in der Hauptstadt Kyjiw, geht der Kampf in den renovierten Fluren des 100 Jahre alten Kundiiev-Instituts weiter. Hier herrscht eine ruhige Atmosphäre. Rund 50 Soldat* innen erhalten hier eine Langzeitbehandlung für sichtbare und unsichtbare Verletzungen. Die staatliche Einrichtung ist seit zwanzig Jahren auf die Behandlung von Soldat*innen spezialisiert. Nach der Invasion haben sich der Bedarf und die Intensität jedoch verzehnfacht. Dank internationaler Spenden wurde das Institut mit den neuesten Maschinen ausgestattet: vernetzte Laufbänder, Bewegungssimulatoren und spielerische Rehabilitationswerkzeuge.
Der Tag beginnt mit Kräftigungs- und Dehnungsübungen auf den Sportmatten in der zentralen Halle und unter dem wachsamen Auge von Sergiy, einem Physiotherapeuten. Hier wird der Krieg durch Wiederholung geheilt: atmen, konzentrieren, wiederholen. Sergiy spricht wenig. Er korrigiert lediglich eine zu schnelle Atmung, eine falsche Kniestellung, ein zu kurzer Atem. «Man muss wieder lernen, auf seinen Körper zu hören. Früher war er ein Werkzeug. Jetzt ist er ein Terrain, das man zurückerobern kann. Jede Übung ist darauf ausgerichtet, Koordination, Ausdauer und Beweglichkeit wiederherzustellen», sagt er.
Zweimal pro Woche verlässt Sergiy abends das Institut und fährt in die östlichen Vororte von Kyjiw, wo er sich mit einigen seiner Patient*innen trifft. Dort, in einer verlassenen sowjetischen Fabrik, werden die Bögen im Bogenschiessclub der Kyjiw Target Archery School nicht zum Kämpfen, sondern zur Rehabilitation eingesetzt. «Dieser Sport fördert die Koordination, stärkt die Muskeln und beruhigt den Geist. Das sind wichtige Dinge für Veteran*innen», sagt Eugene, der Gründer des Vereins. Hier kann man trainieren, wann man will. Für Soldat*innen, die einen Drittel der Mitglieder ausmachen, ist der Verein kostenlos.
In einer Ecke des Saals spannt eine kräftige Person ihren Bogen. Constantin ist ein Veteran. Er ist zwar vom Leben gezeichnet, aber sein Blick ist immer noch hellwach. Sein Pfeil fliegt blitzschnell in die Mitte der Zielscheibe. Der 50-Jährige kämpfte ab 2016 in Mariupol bei der Marineinfanterie. Drei Verletzungen später war er gezwungen, den Dienst an den Nagel zu hängen. Im Jahr 2022, nach zwei Jahren Rehabilitation, musste Constantin plötzlich wieder in den Dienst eintreten. Als Mitglied der Einheit zur territorialen Verteidigung von Kyjiw schloss er sich den Tausenden von Zivilist*innen an, die sich bewaffneten, um die russische Invasion abzuwehren. Nachdem die Hauptstadt ausser Gefahr war, wurde er einem Krankenhaus zugewiesen, wo er sich mehrere Monate lang ausruhen musste. «Ich habe die Grenzen meines Körpers überschritten, als ich in den Kampf zurückkehrte. Jetzt muss ich mein Leben lang gepflegt werden», sagt er.
Zu Hause verfiel er dem Alkohol, nahm 40 kg zu und entwickelte ein stressbedingtes Stottern. Dann entdeckte er die Vorzüge des Bogenschiessens. Innerhalb eines Jahres verlor Constantin seine überflüssigen Pfunde, sein Stottern und seinen Hang zum Alkohol. «Das Bogenschiessen hat mir mein Leben zurückgegeben», sagt er. Aber in der Ukraine des Jahres 2025 kann es sich kein Veteran leisten, zu vergessen, dass er es eines Tages vielleicht wieder riskieren muss. Constantin ist sich dessen bewusst: «Egal, wie alt ich bin und wie verletzt ich bin, wenn die Russen bis hierher zurückkommen, werde ich wieder zu den Waffen greifen.»