In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 «verschwanden» 43 Lehramtsstudierende der Escuela Nor-mal Rural «Raúl Isidro Burgos» – einer Hochschule zur Ausbildung von Grundschullehrer*innen in Ayotzinapa – in der Kleinstadt Iguala im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Fast zehn Jahre danach geben weder das mexikanische Innenministerium (Secretaría de Gobernación - SEGOB) noch das Ministerium für Sicherheit und Bürgerschutz (Secretaría de Seguridad y Protección Ciudadana - SSPC), wichtige Dokumente zur Aufklärung des Falls heraus. Das Verteidigungsministerium (Secretaría de la Defensa Nacional - SEDENA) gibt bis heute 800 Dokumente nicht frei, die für die Ermittlungen wichtig sind. Dieses Vorenthalten relevanter Informa-tionen durch Ministerien behindert die Ermittlungen und sorgt damit letztlich dafür, dass die Angehörigen der Opfer die Wahrheit über das Verschwindenlassen nicht erfahren und dass die Verantwortlichen nicht strafrechtlich verfolgt werden können.
Auch die öffentlichen Angriffe der Regierung gegen Organisationen, die die Angehörigen der 43 Studierenden unterstützen, geben Anlass zur Sorge. Die Angriffe bringen diese Organisationen in Verruf und erschweren den Angehörigen die Suche nach den Studierenden.
Gemäss dem Internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und anderen internationalen Vereinbarungen haben die Angehörigen von Verschwundenen das Recht, die Wahrheit über die Umstände des Verschwindenlassens und das Schicksal der Verschwundenen zu erfahren.
Im Jahr 2018 nahm die derzeitige mexikanische Bundesregierung die Ermittlungen im Fall der 43 verschwundenen Studierenden in Ayotzinapa wieder auf und versuchte, sie neu auszurichten. Zu diesem Zweck richtete sie die Kommission für Wahrheit und Zugang zur Justiz (Comisión para la Verdad y el Acceso a la Justicia del Caso Ayotzinapa - CoVAJ) und eine Spezialeinheit für Ermittlung und Prozessführung im Fall Ayotzinapa (Unidad Especial de Investigación y Litigación para el Caso Ayotzinapa - UEILCA) ein. Auch internationale Menschenrechtsorganisationen haben an den Ermittlungen mitgewirkt, insbesondere die Interameri-kanische Menschenrechtskommission (IACHR) über die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert*innen (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes, GIEI).
Aktuelle Ermittlungsergebnisse weisen darauf hin, dass das Militär am Verschwindenlassen der 43 Studierenden beteiligt war oder dieses zumindest vertuscht hat. So gibt es Belege dafür, dass sich Angehörige des militärischen Geheimdienstes als Studierende in die Escuela Normal Rural eingeschleust und dort die «verschwundenen» Studierenden ab deren Verlassen der Schule überwacht haben; dass andere Angehörige des militärischen Geheimdienstes den Studierenden in Iguala gefolgt sind; dass wieder andere Militärangehörige die Studierenden von ihrer Ankunft in Iguala bis zu ihrem Verschwindenlassen überwacht haben; dass diverse Polizeifahrzeuge in dem Gebiet patrouillierten, in dem die Studierenden angegriffen wurden, und dass Polizeikräfte mit einigen von ihnen Kontakt aufnahmen, ohne ihnen zu helfen.
Trotz dieser Fortschritte bei den Ermittlungen weigert sich die Regierung, fehlende Dokumente zum Fall Ayotzinapa herauszugeben. Im Jahr 2023 wies die GIEI darauf hin, dass die Regierung 800 Dokumente zurückhalte, die vom Militär stammen. In einem davon geht es um den Transport von 17 Studierenden von der Polizeiwache in Barandilla in die Aussenbezirke von Iguala. Es soll sich dabei um Abhörprotokolle der Mobiltelefone des stellvertretenden Polizeidirektors von Barandilla und des Anführers der kriminellen Gruppe Guerrero Unidos handeln, die das Militär erstellt hatte. Als sich die Regierung weigerte, diese Dokumente zur Verfü-ung zu stellen, verliess die GIEI die Kommission zur Aufklärung des Falls. Seit Juli 2023 fordern die Angehörigen der Opfer von Ayotzinapa die Aushändigung dieser Dokumente. Der Leiter des Ministeriums für Menschenrechte, Bevölkerung und Migration, Alejandro Encinas Rodríguez, bestätigte zwar die Existenz der Dokumente, kündigte jedoch im Oktober 2023 – ohne sie davor zu übergeben.
Seit 2023 greift Präsident Andrés Manuel López Obrador wiederholt die Menschenrechtsorganisationen an, die die Angehörigen der 43 Studierenden beraten, so zum Beispiel das Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez und die GIEI.