Die anhaltende willkürliche Inhaftierung der Menschenrechtsverteidiger*innen Sherifa Riahi, Yadh Bousselmi und Mohamed Joo von Terre d’Asile Tunisie – dem tunesischen Zweig der französischen NGO France Terre d’Asile – sowie von Imen Ouardani, der ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisterin der Stadt Sousse im Osten des Landes, gibt Anlass zu grosser Sorge. Sherifa Riahi war zurzeit ihrer Inhaftierung noch mit ihrem Säugling im Mutterschutz.
Die Behörden ermittelten nicht nur gegen Sherifa Riahi, Yadh Bousselmi und Mohamed Joo, sondern auch gegen drei weitere Mitarbeiter*innen von Terre d’Asile. Ausserdem haben sie – neben dem Vorgehen gegen Imen Ouardani – eine Untersuchung gegen 16 weitere ehemalige Beamt*innen und Angestellte der Stadt Sousse wegen der Zusammenarbeit mit der NGO eingeleitet. Im Fokus steht dabei die Einrichtung einer Anlaufstelle für Geflüchtete durch die NGO Terre d’Asile in einem Gebäude der Stadt. Terre d‘Asile ist registriert und arbeitet transparent. In Zusammenarbeit mit den lokalen und nationalen Behörden, einschliesslich der Stadtverwaltung von Sousse, leistet sie wichtige Hilfe für schutzbedürftige Flüchtlinge und Migrant*innen.
Grundlage für die Ermittlungen ist die Darstellung der Lage seitens der Regierung als eine vom Ausland unterstützte zivilgesellschaftliche Verschwörung zur «dauerhaften Ansiedlung» von Migrant*innen aus Staaten südlich der Sahara. Das Vorgehen verletzt die Rechte auf Vereinigungsfreiheit und freie Meinungsäusserung, kriminalisiert die legitime Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft und lokalen Behörden sowie die internationalen Verpflichtungen Tunesiens gegenüber Flüchtlingen und Migrant*innen, indem die Regierung Schutz- und Hilfsmassnahmen behindert. Gemäss dem UN-Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, das von Tunesien ratifiziert wurde, ist die Unterstützung von Migrant*innen – unabhängig von ihrem rechtlichen Status – durch internationales Recht geschützt und darf nicht mit Menschenschmuggel oder Menschenhandel gleichgesetzt werden. Nach dem Völkerrecht und internationalen Standards darf Untersuchungshaft nur dann verhängt werden, wenn dies unbedingt erforderlich ist, um zu verhindern, dass Verdächtige flüchten, die Ermittlungen behindern oder eine schwere Straftat begehen. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Kindern. Doch stattdessen schränken die Behörden die Besuche der zwei kleinen Kinder von Sherifa Riahi unzulässig ein.
Anfang Mai 2024 begann die tunesische Regierung ihr hartes Vorgehen gegen Flüchtlinge und Migrant*innen sowie gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für deren Rechte einsetzen. Am 6. Mai 2024 griff Präsident Kaïs Saïed in öffentlichen Äusserungen Organisationen an, die im Bereich der Migration tätig sind. Er beschuldigte sie, die «Ansiedlung» von Migrant*innen anzustreben, und bezeichnete sie als «Verräter» und «[ausländische] Agenten». Er sagte: «Es gibt Netzwerke im Inneren, die mit Netzwerken im Ausland in Verbindung stehen... Finanzielle Transfers erhalten ... diejenigen, die fälschlicherweise behaupten, dass sie [die Migranten] schützen, eine Vereinigung, Sie alle wissen, dass sie eine Ausschreibung veröffentlicht haben, um diese Afrikaner zu beherbergen ... die sich illegal [in Tunesien] aufhalten». Am 7. Mai 2024 kündigte eine Staatsanwaltschaft in Tunis Ermittlungen gegen Vereine wegen «Missbrauchs ihres Mandats zur finanziellen Unterstützung» von Migrant*innen ohne Papiere an. Die Behörden haben seitdem die Leitung bzw. ehemalige Mitarbeiter*innen oder Mitglieder von mindestens 15 Organisationen vorgeladen, festgenommen und strafrechtliche Ermittlungen gegen sie aufgenommen.
Terre d’Asile Tunisie, die tunesische Zweigstelle der französischen Flüchtlings- und Migrantenrechtsorganisation France Terre d’Asile, gehörte zu den ersten NGOs, die ins Visier genommen wurden. Am 4. und 5. Mai 2024 durchsuchte die Polizei ihre Büros und lud ihre Mitarbeiter*innen vor. Am 7., 8. bzw. 13. Mai folgte dann die Festnahme und Inhaftierung von Sherifa Riahi (ehemalige Direktorin), Yadh Bousselmi (Direktor) und Mohamed Joo (Finanz- und Verwaltungsdirektor). Ausserdem nahm die Polizei am 11. Mai zwei ehemalige Beamt*innen der Stadt Sousse fest, darunter die ehemalige stellvertretende Bürgermeisterin und Aktivistin Imen Ouardani. Am 16. Mai wurde von einem Untersuchungsrichter in Tunis Untersuchungshaft gegen sie verhängt. Die Vorwürfe lauteten «Unterstützung illegaler Einwanderer» (Paragrafen 38 bis 43 des Gesetzes Nr. 40 von 1975 über Pässe und Reisedokumente), der Missbrauch eines öffentlichen Amtes «zur Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils oder zur Schädigung der Verwaltung» (Paragraf 96 des Strafgesetzbuchs), Geldwäsche, Betrug sowie «Angriff auf eine Person oder ein Eigentum». Ausserdem wird gegen die rechtliche Vertretung und sechs ehemalige und derzeitige Mitarbeiter*innen von Terre d’Asile sowie gegen 17 ehemalige Beamt*innen und Mitarbeiter*innen der Stadt Sousse ermittelt. Das Gericht ordnete bis zum Abschluss der Ermittlungen das Einfrieren der Bankkonten sowohl der Organisation als auch von Einzelpersonen an und beauftragte einen Finanzexperten mit der Untersuchung des Vorwurfs «ungerechtfertigter und unbekannter Einnahmen». Dieser kam am 8. Januar 2025 zu dem Schluss, dass keine Unregelmässigkeiten seitens Terre d’Asile vorliegen. Seit Mai 2024 haben die Behörden mindestens drei Anträge auf Freilassung gegen Auflagen abgelehnt.
Am 28. Januar 2025 schloss der Richter seine Ermittlungen ab. Er verwies die Fälle von nur noch sechs Personen – Sherifa Riahi, Yadh Bousselmi, Mohamed Joo, einem vierten Mitarbeiter von Terre d’Asile, Imen Ouardani und einem weiteren ehemaligen Kommunalbeamten – zur Verhandlung, nachdem er mehrere Anklagepunkte wie Geldwäsche und Amtsmissbrauch fallen gelassen hatte. Nachdem die Staatsanwaltschaft Berufung gegen diese Entscheidung eingelegt hatte, entschied eine Anklagekammer am 26. Februar 2025 jedoch, alle sechs Mitarbeiter*innen von Terre d’Asile und 17 Beamt*innen und Angestellte der Stadtverwaltung von Sousse anzuklagen. Die Vorwürfe lauten «Bildung eines Bündnisses zur Beherbergung von Personen, die illegal in das tunesische Hoheitsgebiet einreisen oder es verlassen» (Paragrafen 39 und 41 des Gesetzes 40 von 1975), «wissentliche direkte oder indirekte Hilfe oder der Versuch, der Einreise, Ausreise oder dem illegalen Aufenthalt eines Ausländers in Tunesien Vorschub zu leisten» (Paragraf 25 des Gesetzes 68-7 von 1968 über die Bedingungen für Ausländer) und «Missbrauch der Stellung eines öffentlichen Beamten». Die Anklagen beruhen ausschliesslich auf der Arbeit von Terre d’Asile und ihrer Partnerschaft mit der Stadt Sousse zur Unterstützung von Flüchtlingen und Migrant*innen. Die Behörden führen haltlose Vorwürfe von «verwaltungstechnischen Unregelmässigkeiten» bei der Unterzeichnung der Partnerschaftsvereinbarung zwischen der Stadtverwaltung und Terre d’Asile an, um zu belegen, dass ein öffentliches Gebäude illegal zur Umsetzung «eines [ausländischen] Plans, der es irregulären Migranten ermöglichen soll, sich in Tunesien zu bewegen, aufzuhalten und niederzulassen» genutzt worden sei. Die Anklagekammer entschied ausserdem, Mohamed Joo grundlos wegen «Fälschung eines Führungszeugnisses oder eines anderen Dokuments, das geeignet ist, eine An-stellung, einen Kredit oder Unterstützung zu erhalten» (Paragraf 199 des Strafgesetzbuchs) zu verfolgen. Alle Angeklagten legten Berufung gegen die Anklageschrift ein.
Die Inhaftierung von Sherifa Riahi und die Behinderung der Besuche ihrer Kinder durch die Behörden geben ausserdem Anlass zu Bedenken hinsichtlich von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und des elterlichen Status sowie mit Blick auf das Kindeswohl. Bei den wöchentlichen Besuchen ist Sherifa Riahi durch eine Glaswand von ihrem Baby und ihrem vierjährigen Sohn getrennt. Sie kann sie nicht in den Arm nehmen und nur über eine Gegensprechanlage sprechen. Seit Juni 2024 haben ihr die Gefängnisbehörden nur drei Besuche gestattet, in dem sich alle im gleichen Raum aufhalten durften. Die Erteilung einer entsprechenden Genehmigung dauerte bis zu drei Monate. Nach den Bangkok-Regeln für die Behandlung weiblicher Gefangener müssen Gefängnisbesuche mit Kindern einen direkten Kontakt ermöglichen. Weibliche Gefangene sollten möglichst viele Gelegenheiten erhalten, ihre Kinder in einer angemessenen Umgebung sehen zu können.