Die willkürliche Untersuchungshaft der Aktivist*innen Hivda Selen, Sinem Çelebi und Doğan Nur anlässlich der Istanbuler Pride-Parade am 29. Juni gibt Anlass zu grosser Sorge. Das Vorgehen der Behörden gegen diese drei Aktivist*innen wirft ein Schlaglicht auf die anhaltende Repression von LGBTI+-Aktivist*innen.
Nach Angaben von Menschenrechtsbeobachter*innen, darunter Amnesty International, versammelten sich etwa 20 Aktivist*innen friedlich in einer Strasse im Stadtteil Ortaköy. Noch bevor sie ihre Presseerklärung zu Ende verlesen konnten, traf die Polizei ein, machte Jagd auf sie und nahm die Aktivist*innen und Journalist*innen willkürlich fest, ohne vorher zur Auflösung der Versammlung aufgefordert zu haben. Am 29. Juni wurden in verschiedenen Teilen der Stadt mindestens 53 Personen festgenommen.
Hivda Selen, Sinem Çelebi und Doğan Nur waren nicht Teil der Pride-Parade. Sie wurden an anderen Orten festgenommen und zu ihrer vermeintlichen Teilnahme an der Istanbuler LGBTI+ Pride befragt. Schliesslich wurde ihnen vorgeworfen, sich trotz Warnung nicht entfernt zu haben, und sie wurden in Untersuchungshaft genommen.
Amnesty International hat die Vorwürfe geprüft und keinen Grund für eine strafrechtliche Verfolgung gefunden. Die Inhaftierung von Personen ohne klare Rechtsgrundlage verstösst gegen türkische Gesetze und die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen des Landes. Die drei müssen umgehend freigelassen werden. Niemand sollte nur wegen der friedlichen Wahrnehmung des Rechts auf Versammlungsfreiheit inhaftiert und strafrechtlich verfolgt werden.
Seit 2015 behindern die türkischen Behörden die Pride-Paraden rechtswidrig und systematisch und verstossen damit gegen die Rechte auf friedliche Versammlung, freie Meinungsäusserung und Nichtdiskriminierung. Diese Rechte sind sowohl durch die türkische Verfassung als auch durch internationales Recht, einschliesslich des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und europäischer Menschenrechtsstandards, geschützt. Die Behörden verhängen routinemässig Pauschalverbote über Pride-Paraden und damit einhergehende Veranstaltungen wie z. B. Filmvorführungen oder Picknicks.
Im Juni forderte Amnesty International die türkischen Behörden in einer Urgent Action auf, dafür zu sorgen, dass friedliche Pride-Veranstaltungen ohne Einschränkungen stattfinden können. Gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren beobachtete die Organisation die Istanbul Trans Pride am 22. Juni und die Istanbul LGBTI+ Pride am 29. Juni, die beide rechtswidrig verboten wurden. Bei diesen beiden Veranstaltungen wurden mehr als 100 Personen festgenommen. Zum ersten Mal seit 2015 wurden drei Personen, die am Tag der LGBTI+ Pride festgenommen wurden, anschliessend in Untersuchungshaft genommen.
Die Behörden verboten den Istanbuler Pride, schlossen U-Bahnlinien im Stadtteil Beyoğlu und stellten einige Fährverbindungen zwischen der europäischen und der anatolischen Seite der Stadt ein. Am 29. Juni wurde eine grosse Zahl von Ordnungskräften in den Bezirken Beyoğlu, Kadıköy und Şişli eingesetzt.
Unter den 53 Personen, die an diesem Tag festgenommen wurden, befand sich auch Doğan Nur. Ein*e Polizist*in packte ihn und zwang ihn hinter den Polizeikordon in der Nähe des Ortes, an dem sich die Pride-Teilnehmenden versammelt hatten. Hivda Selen und Sinem Çelebi befanden sich in einem anderen Viertel. Laut eigener Aussage wollte Hivda Selen gerade einer Freundin Kaffee kaufen, als die Polizei sie zu einer Ausweiskontrolle anhielt. Auch Sinem Çelebi wurde auf der Strasse zu einer Ausweiskontrolle angehalten. Beide wurden weder über den Grund für die Ausweiskontrollen noch die mehrstündige Festnahme in Kenntnis gesetzt und dann auf die Polizeiwache gebracht. Dieses Vorgehen verstösst gegen türkischen Recht.
Am 30. Juni entschied das Friedensstrafgericht Nr. 5, Hivda Selen, Sinem Çelebi und Doğan Nur in Untersuchungshaft zu nehmen, während andere unter richterlichen Auflagen freigelassen wurden. Am 14. Juli erhob das Istanbuler Strafgericht erster Instanz Nr. 51 Anklage gegen 53 Personen wegen «unbewaffneter Teilnahme an ungesetzlichen Versammlungen und Demonstrationen» und «Nichtauflösung trotz Aufforderung».
Amnesty International hat die Anklageschrift geprüft und keine Beweise dafür gefunden, dass sie eine international anerkannte Straftat begangen haben. Alle Anklagen sollten fallengelassen werden und niemand sollte nur wegen der friedlichen Wahrnehmung des Rechts auf Versammlungsfreiheit inhaftiert und strafrechtlich verfolgt.